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Donnerstag, 26. November 2015

"Das ist wie Massentierhaltung, den Leuten wird jede Würde genommen"


 

Flüchtlinge in Berlin: Ist das dieses "Wir schaffen es nicht"?

Eine Kolumne von
In Berlin gilt in der Flüchtlingsversorgung das Recht des Stärkeren. Die Situation scheint gewollt elend zu sein. Freiwillige halten einen Betrieb am Laufen, der zur Farce geworden ist. Dabei sind die Flüchtlinge nicht das Problem.
In seiner neuesten Pressemitteilung erzählt das Berliner Lageso, das Landesamt für Gesundheit und Soziales, von allerlei Fortschritten in der Versorgung von Flüchtlingen. Mehr und schnellere Registrierungen, mehr Betreuung, mehr Kinderschutz, unbürokratische Verlängerung von Kostenübernahmen. Es klingt super.

Eine Woche nach Erscheinen der Pressemitteilung: Es ist zwei Uhr nachts, ein Grad Celsius. Hundert, vielleicht zweihundert Männer warten zusammengepfercht zwischen Gittern vor dem Lageso-Gelände. Ihre Anzahl ist schwer zu schätzen, weil sie so gequetscht stehen. Die, die ganz vorne sind, stehen seit 20 Uhr hier. Die Menschen werden bis vier Uhr morgens hier stehen, wenn das Tor zum Gelände geöffnet wird, sich dann einmal kurz bewegen und dann weiter warten. Die, die am längsten stehen konnten und am schnellsten gerannt sind, werden als erste in der Terminvergabe drankommen. Das Amt öffnet um 9 Uhr morgens. Die deutsche Hauptstadt im 21. Jahrhundert: Eine politische Situation, in der nur die körperlich Fittesten weiterkommen und darauf hoffen dürfen, ein Grundrecht gewährt zu kriegen. Wer nicht fit genug war, muss am nächsten Tag wieder kommen. Beziehungsweise in der nächsten Nacht, immer wieder. Olivia, eine 23-jährige freiwillige Helferin von der Initiative "Nachts vor dem Lageso", erzählt von einem Fall, bei dem es 57 Tage dauerte, bis die Person überhaupt registriert war. Es gibt inzwischen eine Online-Petition an Vertreter des Landes Berlin.

Dass nur Männer in dieser Nacht vor dem Gelände ausharren, liegt daran, dass Frauen und Kinder seit ein paar Nächten in ein beheiztes Zelt dürfen. Die Männer müssen mit den zwei Reisebussen auskommen, die privat gesponsert werden. Natürlich verlieren die Menschen dadurch, dass sie sich aufwärmen, ihren Platz in der Schlange.

Eigentlich gibt es fünf Zelte wie das, in dem die Frauen und Kinder sind. Vier davon stehen nachts leer, hell erleuchtet, wie Mahnmale der Idiotie. Die Männer könnten dort warten. "Das ist keine Flüchtlingskrise, das ist eine Verwaltungskrise", sagt Olivia. "Wir kaschieren das nur." Die Ehrenamtlichen helfen mit Kleidung, Decken, Wasser, Tee, warmen Mahlzeiten und Süßigkeiten. Das Lageso und das Land Berlin bieten: Einen Bürgersteig zum Warten. Absperrgitter. Security und Polizei. Es gibt für die Männer, die hier draußen warten, nicht einmal eine verdammte Toilette.

"Das ist wie Massentierhaltung, den Leuten wird jede Würde genommen", erzählt Helferin Olivia. "Wir haben Angst, dass es hier Kältetote geben wird, wenn die Verantwortlichen nicht endlich reagieren."

Die Lage vor dem Amt soll abschrecken
 
Die Verantwortlichen wären Lageso-Präsident Franz Allert und Mario Czaja (CDU), Berlins Senator für Gesundheit und Soziales. Es wäre, neben sehr vielen grundlegenden Dingen, auch Kleinkram, den sie tun könnten, um die Situation zu verbessern. Die Leute nachts in die Zelte lassen, zum Beispiel. Viele von denen, die täglich hier helfen, gehen davon aus, dass es politischer Wille ist: Die Lage vor dem Amt soll abschrecken. 

"Deutschland ist ein Organisationsland", sagt A., der in einem kleinen Bus steht und Tee und Essen verteilt, "aber nur, wenn sie wollen. Ich glaube, sie wollen gar nicht. Sie wollen, dass die Leute leiden." Es sieht stark danach aus. Das "Wir schaffen das nicht" der letzten Wochen und Monate wird hier vor dem Lageso zur Farce.

Alle Übersetzer, die nachts hier arbeiten, sind Freiwillige. Ich frage einen Polizisten, warum es keine Polizistinnen oder Polizisten hier gibt, die arabisch sprechen. "Ja, das ist eine der vielen Fragen hier... das weiß man nicht, warum das hier so ist, und was hier politisch gewollt ist." Für weitere Fragen verweist er an die Pressestelle.

Um kurz vor vier geht das Tor auf. Anders als bisher lässt die Polizei die Menschen einzeln rein. Als die Securityfirma Gegenbauer den Einlass machte, wurde einfach ein großes Tor geöffnet, und es gab jedes Mal einen "Dammbruch", wie die Helfer sagen. Die Menschen rannten los, einige fielen um, verfingen sich in den Absperrgittern, es gab Beinbrüche.

Die Leute rennen jetzt nicht mehr übereinander, sondern erst auf dem Weg zur zweiten Schlange. Ein Mann mit einer Beinverletzung wird zum Krankenwagen gebracht. Ein Syrer mit zwei Kindern sagt, er hat seit zehn Tagen keinen Schlafplatz mehr. Der achtjährige Junge hat nur noch eine funktionierende Niere. Er kramt in der Plastiktüte, die er bei sich trägt, holt eine Packung Kekse raus und gibt seiner kleinen Schwester einen Keks und mir auch einen. Ich muss mich zusammenreißen nicht zu heulen. Niemand heult hier.

Bis fünf Uhr sind zwei Menschen kollabiert. Um halb sechs fängt es an, ein bisschen zu schneien.

Die Flüchtlinge sind nicht das Problem
 
Von dem angeblich so schlechten Benehmen der jungen Flüchtlinge ist übrigens nichts zu sehen. Ich habe als Essensverteilerin schon andere Situationen gesehen: 2005 auf dem Weltjugendtag in Köln. Das Ende des Weltjugendtages wurde mit einem Open-Air-Gottesdienst mit dem Papst gefeiert. Wir waren als Freiwillige eigentlich dafür zuständig, den Leuten - über eine Million - abgepackte Tüten zu geben, die für eine Nacht reichten. Weil nicht klar war, wie viel pro Person ausgegeben werden sollte, wurde das Essen unsortiert verteilt, was dazu führte, dass die Menschen uns das Zeug aus den Händen rissen wie hungrige Tiere. Leute liefen weg mit 20 Bananen, einer Kiste Brötchen oder 30 Packungen Vanillemilch. Für eine Nacht. Es war widerwärtig. Dagegen benehmen sich die Flüchtlinge ordentlicher als die Queen beim Staatsempfang.
 
Sie stehen in der Schlange, ab und zu fragt einer nach Tee. "Smoking is schlecht", sagt einer der Männer zu einer Helferin. "I know, I know", sagt sie, und dann lachen beide. Kurz vor sechs. Vor dem Lageso-Gelände liegen ein paar Decken, Becher und Tetrapaks auf dem Boden. Ein Mann, der in der Staatsanwaltschaft arbeitet, fotografiert den Müll. "Ist ja wohl kein Zustand hier", sagt er. Nein, ist es nicht. Nach dem Weltjugendtag in Köln sah es so ähnlich vermüllt aus, wobei, nein, eigentlich noch zehnmal schlimmer.

Die Flüchtlinge sind in dieser Krise nicht das Problem.

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