Ulrich Khuon schreibt an Senator Mario Czaja "Können Sie nicht oder wollen Sie nicht?"
17:47 Uhr
Sehr geehrter Herr Senator Czaja,
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Deutschen Theaters Berlin
beherbergen seit September jede Nacht obdachlose Flüchtlinge
(mittlerweile waren es an die 300) und aus dieser Perspektive möchte ich
mich an Sie wenden. Der Rücktritt von Herrn Allert hat die folgenden
Beobachtungen und Forderungen nicht überflüssig gemacht. Im Gegenteil:
diese gravierenden Probleme müssten Sie nun mehr als bisher zu Ihrer
Sache machen.
Kürzlich sagten Sie:
"...Wir tun alles, um Obdachlosigkeit zu vermeiden und Flüchtlinge
anständig unterzubringen und zu verpflegen - und nicht das Gegenteil."
Unsere Wahrnehmung und Erfahrung widerspricht dem.
Auch mit Öffnung der neuen Registrierungsstelle in der Bundesallee
haben sich die Abläufe nicht verbessert. Wir bekommen keine
verbindlichen Informationen, wie und wo die Menschen registriert und
untergebracht werden, auf wen wir sie am Morgen nach ihrer
Notübernachtung bei uns verweisen, wo wir sie hinbringen können, wie es
für sie weitergeht. Es gibt ein völlig undurchschaubares System von
alten Wartenummern und neuen täglich wechselnden farbigen Armbändchen.
Menschen sind obdachlos und müssen bei jedem Wetter draußen vor dem
LaGeSo campieren, weil offizielle Stellen sich nicht um sie kümmern. Es
gibt keine funktionierende medizinische und sanitäre Versorgung für die
Ankommenden. Das Personal vor Ort (LaGeSo, security) ist völlig
überfordert und sagt von sich selbst, dass es nicht auskunftsfähig sei.
Flüchtlinge warten viele Stunden täglich und viele Tage bis überhaupt
irgendetwas passiert. Es gibt keine Information, keine Kommunikation,
keinen Leitfaden, was wann wie wo passieren wird. Niemand weiß, ob und
wann er wohin "abgeholt" wird. Zu absolvierende Termine sind teilweise
auf viele verschiedene Institutionen quer über die Stadt verteilt, es
gibt keine Wegbeschreibungen und Anleitungen, schon gar nicht in den
benötigten Sprachen. Leute werden untergebracht und sind kurz darauf
wieder obdachlos – Hotelgutscheine laufen aus oder werden nicht
akzeptiert – sicher auch, weil das LaGeSo die überfälligen Rechnungen
nicht bezahlt. Es fehlen Dolmetscher und Betreuer. In den Unterkünften
herrschen teils unwürdige Zustände, MitarbeiterInnen sind allein
gelassen, wissen nicht, woher sie Unterstützung, Essen und medizinische
Hilfe bekommen.
Ich fordere Sie dringend auf:
- Öffnen Sie die beheizten Zelte am LaGeSo nachts für Ankommende und
installieren Sie ein zügiges, transparentes Registrierungsverfahren, das
Sie allumfassend kommunizieren – an Flüchtlinge, an die unzähligen
freiwilligen HelferInnen und die eigenen BehördenmitarbeiterInnen.
- Organisieren Sie ausreichend Essen, Sanitäranlagen und medizinische Versorgung für das LaGeSo-Gelände und alle Unterkünfte.
- Arbeiten Sie aktiv zusammen mit den Freiwilligen – sie sind es, die
großteils die Aufgaben von Politik und Verwaltung übernehmen!
- Behandeln Sie die Situation gemäß eines Ausnahmezustandes: unbürokratisch, zügig, prioritär und beherzt.
- Bezahlen Sie offene Hostelrechnungen.
- Stellen Sie mehr – gutwillige – Leute in Ihrer Behörde, in den
Unterkünften zur Versorgung, als SachbearbeiterInnen, BetreuerInnen und
WachschützerInnen ein.
- Stellen Sie das Gebäude des ehemaligen Innenministerium für
Notübernachtungen zur Verfügung, wie Herr Ströbele es seit geraumer Zeit
beantragt.
Es ist nicht nachvollziehbar, warum in der Hauptstadt der
Bundesrepublik Deutschland auch noch nach Monaten derart katastrophale
und dramatische Bedingungen herrschen. Ich befürchte, dass an
Schlüsselpositionen eine positive Haltung bewusst oder unbewusst
unterlaufen wird. Nach Monaten der Konfrontation mit Ereignissen und
Situationen, die anfangs sicher neu und überwältigend waren, sollte ein
reiches, stabiles und gut strukturiertes Land wie Deutschland sich
darauf eingestellt haben. Unser Land ist weltweit bekannt für seine
Organisationsfähigkeit. Wir sollten dies – zumal als Hauptstadt – jetzt
in dieser Situation unter Beweis stellen.
Ein derartiges Chaos spricht nicht für "Nicht können" sondern für "Nicht wollen".
Es sollte möglich sein, mit engagierten MitarbeiterInnen und neu dazu gewonnenen das Gegenteil zu beweisen.
Im Namen vieler MitarbeiterInnen des Deutschen Theaters
Ulrich Khuon
Intendant Deutsches Theater Berlin
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