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Flüchtlinge in Berlin Medizinische Notversorgung kann nicht nur Aufgabe Freiwilliger sein
27.10.2015 16:40 Uhr
Seit Beginn des Jahres sind nach Schätzungen insgesamt über 40.000 Flüchtlinge,
vorwiegend aus Kriegsgebieten im Nahen Osten, in Afghanistan und Afrika
nach Berlin gekommen. Diese Menschen suchen bei uns Schutz und
Sicherheit. Es handelt sich um Männer, Frauen, Kinder, ganze Familien,
teilweise mit Neugeborenen. Diese Menschen brauchen eine medizinische
Versorgung. Die Flüchtlinge, die zu uns kommen, sind nicht gesünder und
nicht kränker als wir alle es auch sind. Die allermeisten Krankheiten,
die hier behandelt werden, sind medizinisch einfacher Natur.
Es
handelt sich beispielsweise um Erkältungskrankheiten, um Krankheiten des
Bewegungsapparates, aber auch um infektiöse Hautkrankheiten, wie sie
nach einer zum Teil mehrmonatigen Flucht ohne geeignete hygienische
Möglichkeiten normal sind. Dazu kommen zudem Verwundungen,
Kriegsverletzungen, sowie schlecht verheilende Operationswunden oder
Wunden nach Kaiserschnitten. Ebenfalls befinden sich Schwangere unter
den Flüchtlingen und zahlreiche Kinder aller Altersstufen. Zu diesen
akuten Problemen leiden diese Menschen aber auch unter zu hohem
Blutdruck, Zuckerkrankheit oder an Herzerkrankungen. All diese
Krankheiten sind behandelbar, viele davon heilbar.
Die medizinische Versorgung der ankommenden Flüchtlinge findet in
weit überwiegendem Maße auf freiwilliger Basis statt. Einen Anspruch auf
Versorgung ihrer akuten Leiden durch Krankenhäuser oder niedergelassene
Ärzte haben diese Menschen erst dann, wenn sie als Flüchtlinge
registriert sind und sie einen sogenannten "grünen" Behandlungsschein
erhalten haben. Bis dahin sind es ehrenamtlich tätige Ärztinnen und
Ärzte, aber auch Zahnärzte, Hebammen und Krankenschwestern, die sich um
diese Patienten kümmern.
Die Organisation dieser ehrenamtlichen
Hilfe erfolgte im Wesentlichen spontan vor allem durch den Verein
"Moabit hilft" und Eigeninitiative von Ärztinnen und Ärzten. So haben
auf dem Gelände des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (LaGeSo),
dem ehemaligen Krankenhaus Moabit, in der Turmstraße Ärztinnen und Ärzte
unter sehr primitiven Bedingungen begonnen, die Patienten zu versorgen.
Ihnen wurde dann Mitte August – unter anderem durch die Intervention
der Ärztekammer Berlin – Räumlichkeiten im Haus C, dem ältesten auf dem
Gelände des ehemaligen Krankenhauses Moabit stehenden Gebäude,
zugewiesen.
Schwerstkranke müssen derzeit genauso vor dem LaGeSo warten wie Gesunde
In
diesen Räumen, ohne fließendes Wasser, werden jeden Tag zwischen 150
und 200 Patienten aller Altersklassen von in der Regel drei Ärzten pro
Schicht, einem Zahnarzt und ein bis zwei Hebammen medizinisch betreut.
Die Caritas hat zwischenzeitlich den Auftrag erhalten, sich um das
Management zu kümmern, allerdings stehen die nötigen Mittel aus, um auch
die ärztliche Versorgung auf eine geregelte, hauptamtliche und damit
stetige Basis zu stellen. Aus einer Kerngruppe von ca. 30 Ärztinnen und
Ärzten wird ein wöchentlicher Dienstplan erstellt, in den sich die
freiwilligen Fachärztinnen und Fachärzte eintragen, vor Ort einfinden
und tätig werden. Auf einen Aufruf der Ärztekammer Berlin und des
Marburger Bundes hin haben sich innerhalb von 1,5 Tagen über 800 weitere
Ärztinnen und Ärzte gemeldet, um sich an der medizinischen Versorgung
zu beteiligen.
Ein besonderes Thema sind die Härtefälle. Das sind
Patienten, die besonders schwer erkrankt sind oder sich in einer
besonderen Notlage befinden. Sie müssen bevorzugt administrativ versorgt
werden. Diese Härtefallregelung hat in Berlin offensichtlich nicht
funktioniert. Mütter mit Neugeborenen, Schwerstkranke mit zum Teil
lebensbedrohlichen Erkrankungen müssen die gleiche Wartezeit vor dem
LaGeSo aushalten wie andere Flüchtlinge auch. Dies führt nicht nur zu
besonderem Leidensdruck bei den Betroffenen, sondern auch zu großem
Unverständnis bei den freiwilligen Helfern, die sich hochengagiert in
ihrem mitmenschlichen Bemühen vom LaGeSo im Stich gelassen fühlen. Hier
muss dringend nachgebessert werden.
Nach nunmehr beinahe
dreimonatigen ehrenamtlichen Einsatz im Schichtbetrieb steht fest, dass
viele der freiwilligen Ärztinnen und Ärzte am Ende ihrer physischen und
psychischen Möglichkeiten sind. Der Senat und das LaGeSo waren erstmals
Mitte August aufgefordert, die Voraussetzungen für eine kontinuierliche
medizinische Versorgung der Flüchtlinge zu schaffen. Diese Forderung
wurde mehrfach wiederholt und bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht
umgesetzt. Umgesetzt wurden durch konkrete Intervention des
Gesundheitssenators Mario Czaja zahlreiche Verbesserungen im Kleinen.
Nach
erneuter öffentlicher Kritik an den prekären Zuständen auf dem
LaGeSo-Gelände scheint jetzt etwas Fahrt in die Sache zu kommen. Nachdem
die Zuständigkeiten innerhalb des Senats Berlin offensichtlich jetzt
klarer sind als vorher, hat sich die Charité interessiert gezeigt, die medizinische Notfallversorgung vor Ort zu übernehmen.
Gleichzeitig wurde die Caritas beauftragt, sich ebenfalls um eine
stetige medizinische Versorgung zu kümmern. Die dafür nötigen Ärztinnen
und Ärzte und Hebammen sind vorhanden. Die Caritas kann aus dem Stand
heraus die entsprechende Organisation übernehmen. Durch eine solche
Entscheidung des Berliner Senats bzw. des LaGeSo kann das Thema der
medizinischen Notfallversorgung der Flüchtlinge dauerhaft gelöst werden.
Nach wie vor gibt es keine staatlich organisierte medizinische Notfallversorgung für Nicht-Registrierte
Dass
es anders geht, zeigt die zentrale Impfstelle. Nachdem die Amtsärzte
Berlins bereits vor mehreren Monaten auf die Herausforderungen der
medizinischen Betreuung der zu erwartenden Flüchtlingswelle hingewiesen
haben und die Kassenärztliche Vereinigung ein Angebot zur Einrichtung
einer zentralen Impfstelle unterbreitet hatte, nahm diese Anfang Oktober
offiziell ihre Arbeit auf. Dort werden die Flüchtlinge nach ihrer
Registrierung mit den nötigen Impfungen versehen, die sie selbst, aber
auch ihre Umgebung vor vermeidbaren Infektionskrankheiten schützen.
Diese zentrale Impfstelle ist lobend zu erwähnen, weil damit ein
wichtiges Thema der Prävention vermeidbarer Krankheiten gelöst ist.
Grundlage dieser Lösung war eine klare, einvernehmliche und konstruktive
vertragliche Regelung zwischen Kassenärztlicher Vereinigung Berlin und
Senat/LaGeSo.
Diese zentrale Impfstelle ist im ehemaligen
Röntgenhaus des Krankenhauses Moabit untergebracht. Die räumliche und
sachliche Ausstattung ist im Vergleich zu Haus C, in dem die
Notfallversorgung stattfindet, begeisternd. Es gibt fließendes Wasser
und großzügige beheizte Räume. Auch sind Lagerräume, Behandlungsräume
und Büroräume voneinander getrennt. Dies findet im Haus C alles in einem
einzigen Raum statt.
Die Rolle der Politik respektive staatlicher
Einrichtungen in der medizinischen Versorgung ist – zumindest mir –
unklar. Auch nach Auskunft des Präsidenten des LaGeSo gehört zur
medizinischen Versorgung die Notversorgung auch derjenigen Flüchtlinge
dazu, die noch nicht als Asylbewerber registriert sind und somit noch
keine regulären Ansprüche nach dem Asylbewerber-Leistungsgesetz haben.
Eine solche medizinische Notfallversorgung ist nach wie vor von
staatlichen Einrichtungen nicht organisiert, trotz wiederholter
mündlicher, schriftlicher und öffentlicher Aufforderung. Da es nach
mehrfachen Aussagen führender Politiker in dieser Stadt nicht an
finanziellen Problemen liegt, bleibt die Frage nach dem Grund.
Möglicherweise
hat man das Problem unterschätzt, möglicherweise hat man sich so sehr
auf das freiwillige Engagement der Zivilgesellschaft inklusive der
Gesundheitsberufe verlassen, möglicherweise erleben wir jetzt bereits
die ersten Auswüchse des Wahlkampfes zur Wahl zum Abgeordnetenhaus in
Berlin im Jahr 2016. All dies wäre gleichermaßen unerquicklich. Die
Bewältigung der Herausforderungen im Zusammenhang mit der hohen Zahl an
Asylsuchenden in Berlin kann nur gemeinsam gelöst werden. Das betrifft
sowohl das Zusammenstehen innerhalb der politischen und staatlichen
Organe, aber auch die Zusammenarbeit öffentlicher Organe und der
Zivilgesellschaft. Politische Führung mit konkreten Lösungen ist
gefragt.
Das fordert die Ärzteschaft:
Das haupt- und ehrenamtliche Engagement von Ärztinnen und
Ärzten in Berlin zur medizinischen Betreuung von Flüchtlingen ist
unbestritten. Ohne ausreichende Unterstützung durch den Staat ist der
Erfolg dieser Bemühungen begrenzt. Deshalb fordert die Ärztekammer
Berlin:
1. die Einführung der Gesundheitskarte für alle Asylsuchenden. Diese müssen sie so schnell wie möglich erhalten,
2. die Sicherstellung einer hauptamtlichen, medizinischen Erst- und Basisversorgung durch Haus- und Fachärzte,
3.
den Ausbau der zentralen Impfstelle am LaGeSo zu einer zentralen
Untersuchungs- und Impfstelle. In diese Impf- bzw. Versorgungsstelle
müssen alle altersgerechten Impfungen gemäß den Empfehlungen der
Ständigen Impfkommission durchgeführt werden,
4. eine deutliche personelle Stärkung der bezirklichen Gesundheitsämter nach jahrelangem Stellenabbau,
5. die Beseitigung der gesundheitsgefährdenden Zustände bei der Erstregistrierung.
Das
alles sind wir nicht nur den Flüchtlingen, sondern vor allem auch uns
selbst und Berlin gegenüber schuldig. Die eigentliche Frage reicht
weiter als die Frage, wie Flüchtlinge medizinisch versorgt werden, wie
wir generell mit Flüchtlingen in Deutschland umgehen. Es geht vielmehr
um die Frage, wie wir die Grundwerte unserer Gesellschaft erhalten. Es
geht um Humanität und Solidarität, gerade im Umgang mit den Schwächsten
unter uns. Eine Gesellschaft, die bei der ersten ernsten Herausforderung
diese Grundwerte über Bord wirft, beseitigt ihre eigenen Grundlagen.
Die Bereitschaft des weit überwiegenden Teils der Bevölkerung sich dafür
einzusetzen und weit über das übliche Maß zur Versorgung der
Flüchtlinge beizutragen, ist gegeben.
Günther Jonitz ist Präsident der Ärztekammer Berlin. Sein Beitrag erscheint im Rahmen der Tagesspiegel-Debatte zu Flüchtlingen in Deutschland.
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